Die Siechenmagd by Ursula Neeb

Die Siechenmagd by Ursula Neeb

Autor:Ursula Neeb
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-02-27T20:07:14+00:00


Das Wohnhaus des Henkers ist sehr alt, seit Jahrhunderten schon dient es den Frankfurter Scharfrichtern als Unterkunft. Es ist das einzige Steinhaus im Quartier der Friedlosen. In distanzierter Nachbarschaft zu den schäbigen Hütten und Katen, ist es an eine steinige Anhöhe gebaut, den so genannten „Rabenstein“, auf welchem hoch aufgerichtet, von drei schweren Holzbalken gestützt, der Galgen steht. Der Rabenstein ist unterkellert und enthält ein kleines Verlies für die Delinquenten. Ein unterirdisches Gewölbe mit Stiegen führt von dort direkt zur Scharfrichterei.

Edu stellt seinen Karren neben einen kahlen, laublosen Baum und bindet dort den Esel fest. Die Fensterläden der Scharfrichterei sind noch immer geschlossen, wahrscheinlich wegen der Herbststürme. Edu klopft ein paarmal an die schwere Eichentür.

„Wer ist da?“, tönt eine weibliche Stimme aus dem Innern.

„Wir sind’s, der Edu. Wollen unseren Gulden holen“, antwortet der Abdecker.

„Komm rein, Schundmummel“, entgegnet die Stimme. Der Abdecker betritt den abgedunkelten Raum. Ilse, die Frau des Henkers, sitzt am Tisch und verzehrt Krapfen, die sie in eine Schale mit Milch taucht. Ihre gelblichen Haare hängen strähnig in das volle Gesicht. Sie ist noch im Nachtgewand und ihr mächtiger Busen wölbt sich prall über dem Ausschnitt.

„Bin noch nicht lange auf. War ein anstrengendes Geschäft gestern. Meister Hans ist unten in seinem Keller. Geh halt runter zu ihm“, entgegnet Ilse kühl und blinzelt den Abdecker aus verschlafenen Augenschlitzen an. Auf ihren schwammigen Oberarmen, die vom weißen Linnen nicht bedeckt sind, schimmern dicke Blutergüsse. Edu durchquert den geräumigen Wohnraum bis zu einer Falltür in der Ecke, die er hochklappt. Er folgt den ausgetretenen Stiegen einer steinernen Wendeltreppe nach unten. Die Wände sind feucht und es riecht nach Moder. Ein Kerzenstummel in einer Wandhalterung verbreitet ein flackerndes Licht. Vorsichtig folgt der Abdecker dem Verlauf der Stufen, bis er vor einer schweren, eisenbeschlagenen Tür angekommen ist. Nachdem er angeklopft hat, betritt er einen düsteren, gewölbeartigen Raum, bei dem es sich um ein altes, nicht mehr genutztes Verlies handelt. Dem Henker dient es als eine Art Arbeitsraum. Hier bewahrt er neben anderen Hinrichtungsutensilien und Folterwerkzeugen auch sein Richtschwert auf, das noch aus der Zeit Karls des Großen stammt. Solange schon ist es im Besitz seiner Familie und wird jeweils vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben. Die Inschrift auf dem schweren, aus edlem Damaszener-Stahl gefertigten Schwert lautet:

„Gott fällt das Urteil, der Henker ist nur sein Knecht.“ An den Wänden brennen Teerfackeln und erhellen einen langen Tisch, an dem Meister Hans auf einem hohen Schemel sitzt, vor sich einen Mörser aus Steingut, in welchem er eine Substanz mit einem dicken Stößel bearbeitet. Auf den Regalen an der Wand stehen verschiedene Tiegel und Gläser, in denen zum Teil menschliche Innereien und Knochenteile in klarer Flüssigkeit schwimmend aufbewahrt werden. Auf Genehmigung des Rates ist es dem Züchtiger nämlich erlaubt, die Körper anatomisch interessanter Hingerichteter zu öffnen, um zu nehmen, was ihm davon als Arznei dienlich erscheint. Denn seit alten Zeiten gilt der Henker nicht nur als Mann des Todes, sondern auch als Heiler, dem man magische Kräfte zuschreibt. Im Galgenviertel und auch in Frankfurt werden seine Dienste als Wundarzt und Heiler häufig in Anspruch genommen.



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